Als das Corona-Virus Europa erreichte, veröffentliche die «Neue Zürcher Zeitung» zwei Essays zu einer philosophischen Kontroverse zwischen Giorgio Agamben «Wir sind nunmehr das nackte Leben»1 und Georg Kohler «Alltagstaugliche Vernunft und ‹das nackte Leben›»2. Zum aktuellen Zeitgeschehen erschienen täglich weitere Artikel mit Schlagzeilen wie: «Eine neue Zeit beginnt»3, «Es gibt einen Ausweg – geregelte Corona-Ansteckung»4,«‹Senizid› [Altentötung] heißt das Wort der Stunde»5, «Der neue Notstands-Staat»6, «Plötzlich war nichts mehr wie bisher»7, «Der virologische Imperativ»8, «Das Notrecht stößt rasch an Grenzen»9, «In der Corona-Krise schlägt die Stunde der Spinner»10

    Giorgio Agamben beteuerte angesichts des verordneten Sicherheitsabstands und der Ausgangssperre «Wie das Virus nicht nur uns selbst, sondern die ganze Gesellschaft infiziert» und bedachte zwei Fragen: «Was wird aus den menschlichen Beziehungen in einem Land, das sich daran gewöhnt, auf unabsehbare Zeit so zu leben? Und was ist das für eine Gesellschaft, die keinen anderen Wert mehr hat als das eigene Überleben?» Der in Rom lebende Philosoph sagt: «Es wundert nicht, dass man in Bezug auf das Virus von einem Krieg spricht. […] Nur ist ein Krieg mit einem unsichtbaren Feind, der sich in jedem Menschen einnisten kann, der absurdeste aller Kriege. Es ist in Wahrheit ein Bürgerkrieg. Der Feind ist nicht außerhalb von uns, sondern in uns.»11

    Georg Kohler, emeritierte Professor für Philosophie an der Universität Zürich, widersprach: «Muss man einer der bedeutenden Philosophen der Gegenwart sein, um mit so pauschal auftrumpfenden Sätzen über eine doch sehr spezifische Krisenlage und die Versuche ihrer Bewältigung das allerletzte Wort behalten zu können? Vielleicht. Ein weniger renommierter Zeitgenosse dürfte vermutlich nicht hoffen, mit seinen apokalyptischen Aussagen zum großen Ganzen im gerade dominierenden Jetzt ernst genommen zu werden. Und das ist auch gut so. […] Philosophie, die nicht imstande ist, die Differenz zwischen der angemessen sachkundigen Alltagsanalyse und der Reflexion auf das große Ganze zu erkennen, scheitert an sich selbst. Vor allem aber verdirbt sie das Wichtigste: die Menschen auf das jeweils Fällige aufmerksam zu machen und sie so auf Gedanken zu bringen, die tatsächlich und in mitreißender Weise über das ‹nackte Leben› hinauswollen.»12

    Darauf konterte Giorgio Agamben unter dem Titel: «Bloß eine Frage – Ein Land, ja eine Kultur implodiert gerade [bricht ein], und niemand scheint es zu kümmern: Ich möchte mit denjenigen, die Lust dazuhaben, eine Frage teilen, über die ich seit einem Monat unablässig nachdenke. Wie konnte es geschehen, dass ein ganzes Land im Angesicht einer Krankheit ethisch und politisch zusammenbrach, ohne dass man dies bemerkte?

    […]

    Ich weiß, dass es immer Leute geben wird, die sich erheben und antworten werden: Das durchaus schwere Opfer sei im Namen moralischer Prinzipien dargebracht worden. Allein eine Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ist ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten.»13

 

Wer soll da nun zu den Klugen und wer zu den Narren zählen? Ist die eine Sicht tatsächlich richtig und die andere falsch? Hat denn nicht jeder Mensch das uneingeschränkte Recht auf seine persönliche Wirklichkeit?

    Der Selbst-Anspruch, rechtens zu sein, der im Disput zwischen Agamben und Kohler zu beobachten ist, ist im herrschenden Zeitgeist gefragt. Das prinzipielle Wetteifern zeigt sich auch zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Beide Disziplinen beschäftigen sich mit Organismen, die für ihre Existenz den Menschen als Wirt benötigen: Auf der einen Seite ist es das Virus und auf der anderen Seite der Geist. – Die Naturwissenschaften bekämpfen die bösen Viren und die Geisteswissenschaften streiten über das Un-Wissen vom guten Geist, vom lieben Gott.

    Ist nun zum Erlangen eines friedvollen Daseins unter Menschen der unerbittliche Kampf das geeignete Mittel? Wohl kaum. Vielmehr bedürfte es eines gütigen Einvernehmens, aber der, um seine vermeintliche Wahrheit kämpfende Mensch beschämt, demütigt und entwürdigt andere wie sich selbst unaufhörlich. Nur im gegenseitigen Respekt können die Verletzungen aufhören und die Empfindungen von Scham, Demut und Würde sich einstellen.

    In der Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften wird das menschliche Verhängnis sichtbar: Die Naturwissenschaften beanspruchen für sich ein gesichertes Wissen und die Geisteswissenschaften sollen sich mit einem unsicheren Glauben abzufinden haben. – Jürgen Habermas, der zu den weltweit meistrezipierten Philosophen und Soziologen der Gegenwart zählt, hat sich in einem großen philosophischen Werk von 1650 Seiten aufgemacht, Glauben und Wissen zu versöhnen, schreibt Res Strehle, Schweizer Sozialwissenschaftler, Autor und Journalist, in einem Essay mit dem Titel «Was, wenn der Himmel leer ist?». Der Verfasser unternimmt den Versuch, die Arbeit von Habermas mittels sieben Schritten in die Alltagssprache zu übersetzen. Seine Skizze schließt mit der Vorgabe, wie Glauben und Wissen zusammenkommen sollen. Dabei verweist er auf die Befähigung des ‹nachmetaphysischen Denkens›, insofern «die Moderne bei der wissenschaftlichen Klärung moralischer Grundfragen den religiösen Quellen verpflichtet bleibt».14

 

Besteht die große Herausforderung darin, den alten Zwist der zwei polaren Menschen- und Menschheitsbilder gütig schlichten zu wollen? Oder soll eher der geistig Glaubende ermutigt werden, das Wissen vom Geist zu erlangen, wonach Natur- und Geisteswissenschaften gleichwertig gegenüberzustehen kämen, um sich dann gegenseitig zu ergänzen und zu bereichern?

    Evolutionsbedingt soll der Einzelne einen inneren Entwicklungsweg beschreiten können, ausgehend vom Glauben in der nichtbewussten Trance, über das Vertrauen im unterbewussten Schlaf und das Verstehen im vorbewussten Traum hin zum Wissen im bewussten Wachsein.

    Der geistig erwachte Mensch ist befähigt, seine Individualität anzuschauen, seine Identität zu betrachten und sein Schicksal zu begutachten. Dabei kann er bemerken, wie er in der Individualisierung an sein Bewusstsein, in der Identifizierung an seine Erkenntnis und hinsichtlich des Schicksals an sein Gewahrsein gebunden ist. Er kann sehen, wie er in der Beziehung zu allen Objekten, also auch zu seinem eigenen Wesen, bei der Anschauung, Betrachtung und Begutachtung in zu unterscheidende Subjekt-Objekt-Verhältnisse kommen kann: Bei der geistigen Trance ins Geschieden-sein, beim geistigen Schlaf ins Getrennt-sein, beim geistigen Traum ins Abgesondert-sein und beim geistigen Wachsein ins Gegenüber-stehen.

    Im Zustand des Wachseins ist der Mensch – sinnbildlich gesprochen – in der Verfassung, den Geist in seinem Inneren zu hören. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang, in welchem sich dieses Hören auf drei Ebenen verfeinern kann zu einem Anhören, Zuhören und Hinhören. Beim Anhören kann zwischen dem Menschen als das Subjekt und dem Geist als das Objekt eine imaginative Verknüpfung, beim Zuhören eine inspirative Verbindung und beim Hinhören ein intuitives Einssein erstehen.

    Diese Subjekt-Objekt-Verhältnisse, die das Wachsein bedingen, kann der Mensch beim Lesen der hier angeführten Erwägungen unmittelbar bewusst erleben, wenn er sich achtet, auf welche Weise er die Zeilen in sich wirken lassen kann: verweilt er zwischen-den-Worten, ist er mit ihnen verknüpft, versinkt er in-den-Worten, ist er mit ihnen verbunden, kann er mit-den-Worten sein, ist er mit ihnen vereint, also eins. Geht er über-das-Wort-hinaus, steigt er vom gebundenen Geist in der Psyche zum reinen Geist in der Leerheit empor. Sodann ersteht noch ein weiteres Subjekt-Objekt-Verhältnis: das Eines-sein des Menschen mit dem Geist. Hier endet das ausschließliche Drinnenstehen zwischen Sein und Nichtsein, denn der Mensch kann nun in der überschauenden Beobachtung verweilen, während er in der Psyche ein geistig gebundenes Subjekt bleibt.

 

In der Regel ereignet sich die überschauende Beobachtung zu Beginn nur in kurzen Augenblicken, weshalb der Mensch schnell wieder seinem subjektiven Eigensein ausgesetzt ist. Kann er mit der Zeit jedoch etwas länger in der überschauenden Position verweilen, kommt sein Wesen in der Psyche allmählich zum Schweigen und es kann sich das Berührt-sein ab dem Anderen einstellen. – Er wird sich seines Selbsts los, wird im wahrsten Sinne des Wortes selbst-los. In seinem Inneren wird es sodann ruhig, friedvoll und still. Nun kann er lernen zu unterscheiden zwischen dem bislang vermeintlichen Berührtsein im gebundenen und dem wieder erlangten, ursprünglichen Berührtsein im reinen Geist.

    Huldigt der Mensch aber weiterhin ausschliesslich dem gebundenen Geist in der Psyche, haftet er an seiner Individualität, seiner Identität und seinem Schicksal und es dreht sich alles immer noch nur um sein eigenes Wesen, seine persönliche Existenz. Aus seiner emotionalen und kognitiven Einfältigkeit vermag er aus eigenen Kräften nicht auszubrechen, weshalb es oft nur eine Frage der Zeit ist, wann er in seinem nicht enden wollenden Trott scheitert, entweder in der Aggression oder Depression: in der aggressiven Beschleunigung entstehen Fliehkräfte, er wird aus seiner gewohnten Bahn herausgeschleudert, und in der depressiven Verlangsamung überfällt ihn psychische Schwere, er versinkt förmlich in sich selbst. Seines zerbrechlichen Naturells wird er sich oft erst in Verbindung mit einem kaum vorhersehbaren, einschneidenden Ereignis gewahr: einer argen Krankheit, eines tragischen Unfalls, den plötzlichen Tod eines geliebten Menschen, Erwerbslosigkeit, drohende Armut…

 

Dem eigenen Leid gegenüber kann sich eine widerstrebende Sehnsucht bilden, eine verabscheuende Begierde ausbreiten oder gar eine verbitterte Leidenschaft zeigen. Zeitweilig kann sich hierbei die überschauende Beobachtung einstellen.

    In solchen Momenten steht der verzweifelte Mensch hinsichtlich seines Verhältnisses zur äußeren und inneren Welt vor einer bedeutenden Entscheidung: Er kann den bisherigen Weg des Übermuts weiter beschreiten oder den Pfad des Freimuts einschlagen. Im Übermut ist er gefährdet, dem Mutwillen, dem Hochmut und dem Wagemut zu verfallen. Dabei bleibt er am Übermut haften, entfernt sich zusehends aus gesellschaftlichen Zusammenhängen und gleitet ab in Schwarz-weiss-Malerei durch Polarisierung von Gut und Böse. Er ist dann empfänglich für Verschwörungstheorien und neigt zur Radikalisierung, was gar im Terrorismus enden kann. Entscheidet er sich hingegen für den Freimut, wird er offen, aufgeschlossen, geradlinig, und kann sein künftiges Leben zusehends in geistiger Freiheitlichkeit gestalten.

    In der wahren Liberalität, der liberalen Freiheitlichkeit unterlässt es der Mensch, Kritik zu üben, denn er betrachtet sich nicht mehr als ein Besser- oder Minder-, sondern als ein Anderswissender. Er wird sich seiner eigenen Einfalt gewahr, wird sich gewiss, dass er nur im Erfassen des Bewusstseins, der Erkenntnis und des Gewahrseins der anderen Menschen die irdische Vielfalt erstehen kann. Beweggründe, sich zu messen, entfallen, weshalb er sich in der heutigen Streitkultur nicht mehr heimisch fühlen kann. Gleitet er dennoch wieder in frühere Verhaltensmuster und beteiligt sich erneut am unsinnigen Kräftemessen in Scheindebatten – in welchen die Beteiligten vorwiegend damit beschäftigt sind, ihre Einstellung und Haltung gegenüber anderen behaupten zu können – wird ihm durch Kümmernis und Leid die eigene Erbärmlichkeit in Erinnerung gerufen.

    In sozialen Zusammenhängen kann er erleben, wie die geistige Freiheitlichkeit menschlichen Freimut bedingt, aber keineswegs geistige Freiheit darstellen kann. – Die geistige Freiheit kann nur vom freien Geist ausgehen. Gegenüber dem gebundenen Geist, der dem Menschen das Bewusstsein, die Erkenntnis und das Gewahrseins erschließt, ist der freie Geist ein Nichts. Als das Nichts ist er ein Etwas, das nichts Eigenes in sich birgt.

    Der freie Geist wird im Menschen einst erscheinen, wie dies der Poet Novalis in einem seiner Gedichte festgehalten hat: «Es bricht die neue Welt herein und verdunkelt den hellsten Sonnenschein, man sieht nun aus bemoosten Trümmern eine wunderseltsame Zukunft schimmern, und was vordem alltäglich war, scheint jetzo fremd und wunderbar, der Liebe Reich ist aufgetan, die Fabel fängt zu spinnen an. Das Urspiel jeder Natur beginnt, auf kräftige Worte jedes sinnt, und so das grosse Weltgemüht überall sich regt und unendlich blüht.»15

 

Novalis bezeugt autobiographisch, was Jesus von Nazareth als die Wiederkunft des freien Geistes im Inneren des Menschen bezeichnete. Solange sich der Mensch evolutionsbedingt aber noch auf der Ebene des Glaubens und des Vertrauens aufhält, oder sich im Kontext der Aufklärung im vermeintlichen Verstehen und Wissen befindet, hat sich in ihm die Wiederkunft noch nicht ereignet. Es herrscht dann immer noch ein bedürftiger Zustand, der andauert, bis sich dem geistig Blinden wie auch den «blinden Blindenführern»16 die überschauende Beobachtung im reinen Geist erschlossen hat. Dann aber kann die trügerische Wahrheit als das, was sie ist, gewahr werden, – als Schein, als Illusion und als Fiktion einer streitbaren Ansicht ab der unbestreitbaren Welt.

    Der religiös unmusikalische und der aufgeklärte Mensch verharren im glaubenden Nicht-glauben, im vertrauenden Un-vertrauen, im verstehenden Nicht-verstehen oder im wissenden Un-wissen. Beide bilden, aus willkürlich ausleg- und erfahrbaren Wirklichkeiten, selbstgefällige Wahrheiten. Der esoterische Mensch geht darüber hinaus den Pfad der Verblendung in der Imagination, der Inspiration und der Intuition.

    Entsprechend den Gesetzen der Evolution sind alle Menschen ausgestattet mit einer einzigartigen physischen, geistigen und sozialen DNA. Insofern wird die individuelle Entwicklung vom individuellen Schicksal vorgegeben. Aber hinsichtlich seiner inneren Haltung und seiner äußeren Lebensführung hat der Mensch immerfort Entscheidungen zu treffen und seine Taten angesichts der gesellschaftlichen Regeln und Verpflichtungen bei sich selbst zu verantworten.

 

Die eine wahre Wirklichkeit, wie sie hier beschrieben werden soll, gilt es, in der Theorie mittels reiner Systematik sichtbar werden zu lassen. Anhand von Praxisbeispielen aus Essays und Literatur soll dazu angeregt werden, achtsam zu werden auf das unmittelbare innere Erleben. Dieses erweist sich im individuellen Subjekt-Objekt-Verhältnis mit der Welt, in der Psyche im Verknüpft-, Verbunden- und Einssein oder in der überschauenden Warte im Eines-sein.

    Der Schriftsteller Daniel Kehlmann schreibt in einem Essay der NZZ unter dem Titel: «Was bleibt von der Religion? – Peter Sloterdijk [Philosoph, Kulturwissenschaftler und Publizist, der mit seinen Beiträgen und Büchern in Deutschland zahlreiche Debatten ausgelöst hat] setzt hinter den Glauben einen Schlusspunkt und blickt heiter auf ein faszinierendes Relikt.» Der Verfasser bekundet über die von Sloterdijk jüngst aufgelegte Arbeit «Den Himmel zum Sprechen bringen – Über Theopoesie»:

    «Das Buch endet mit einem Plädoyer [Schlussvortrag], nicht für die Abschaffung, sondern für die ‹überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit› der Religion in der säkularen [weltlichen] Gesellschaft. ‹Was von den historischen Religionen bleibt, sind Schriften, Gesten, Klangwelten, die noch den einzelnen unserer Tage gelegentlich helfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen. Das Übrige ist Anhänglichkeit, begleitet vom Verlangen nach Teilhabe. / Dieser schlechthin perfekten Formel ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht, dass ein Bewusstseinszustand, der solch ein Buch hervorbringen kann – so heiter gelassen, so freundlich gegenüber Gemütsverfassungen, die er als überwunden erkennt –, vielleicht wirklich das letzte Stadium auf dem langen Weg der Aufklärung ist: nicht die Bekämpfung der Religion, wie sie Voltaire [Philosoph, Schriftsteller und Aufklärer] und Diderot [Zeitgenosse Voltaires] noch vorschweben musste, sondern deren spöttische, fröhliche Wertschätzung als faszinierendes Relikt [Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit]. Erst wenn so etwas möglich ist, ist Gott wirklich tot. Und bei Gott, das wäre keine schlechte Nachricht.»17

    Nach Kehlmann repräsentiert Sloterdijk den aufgeklärten Menschen kurz vor Vollendung, der sich im geistigen Wach-sein am rückständigen Objekt als fortgeschrittenes Subjekt selbst spiegelt, anschaut, betrachtet und begutachtet.

    Zu Beginn der Aufklärung bestand das Ansehen, Befremdendes zu liquidieren, abzuschaffen, es zu töten. Als dies nicht gelingen wollte, begann der Mensch das, was ihm nicht Eigen war, zu konfrontieren, zu bekämpfen. Wiederum erfolglos sah er sich dann genötigt, zu boykottieren, zu erzwingen. Als er auch damit scheiterte, begegnete er gleichgültig in Übermut, duldete das Andere lediglich noch. In Selbstgefälligkeit geht er nun als Homo sapiens die letzten Meter seines Weges zur Vollendung mutwillig, hochmütig und wagemutig. Dort angekommen, mutet er der Welt sein inneres Wesen zu, befindet sich insofern in der Zumut.

 

Der aufgeklärte Mensch benutzt in der Regel bei der Begutachtung der äußeren Welt und seines inneren Wesens sieben W-Fragen: Was?, Wann?, Wo?, Wie?, Warum?, Weshalb? und Wieso?

    Der äußeren Situation begegnet er mit den Fragen Was?, Wann? und Wo?. Das tiefere Verständnis erkundet er über das Warum?, das Weshalb? und das Wieso?. Und im Wie? erhält er Aufschluss über die äußeren Verhältnisse und sein subjektives Verhalten zum Objekt.

    Den sieben Fragen ist gemeinsam, dass sie der Mensch seinem aktuellen Bewusstsein-, Erkenntnis- und Gewahrseinszustand gemäß stellt: in der nichtbewussten geistigen Trance, im unbewussten geistigen Schlaf, im vorbewussten geistigen Traum, im geistigen Wach-sein, in der Imagination, Inspiration oder Intuition. Auf der Suche nach dem Warum?, Weshalb? und Wieso? erweisen sich ihm drei zu unterscheidende Instanzen: das Selbst fragt in der Anschauung nach dem Warum?, das Ich erkundigt sich bei der Betrachtung nach dem Weshalb? und das Selbst und Ich, als ein vereintes Selbst-Ich, ergründen bei der Begutachtung das Wieso?. – Im Wie? kann der Mensch weitere bedeutende Aufschlüsse über die äußeren Erscheinungen sowie das eigene Innere erlangen und zu allem sein persönliches Verhältnis ergründen.

    Dabei ist zu bedenken: solange er evolutionsbedingt an sein eigenes Wesen geistig gebunden ist, bleibt jedes Bewusstsein, alle Erkenntnis und das ganze Gewahrsein ein subjektives Unterfangen. Gesteht er sich dies ein und legt er seinen Wahrheitsanspruch ab, kann er anderen Menschen vermehrter in ihrer subjektiven Wirklichkeit begegnen durch Toleranz im Er-dulden, durch Akzeptanz im Billigen und durch Respekt im Anerkennen.

    Er kann dann feststellen, wie die Mitmenschen auch in seiner fortschreitenden Existenz unersetzbar sind, denn: Toleranz mindert den Mutwillen und führt zur Sanftmut, Akzeptanz verhindert den Hochmut und fördert die Demut und Respekt unterbindet den Wagemut und erweist sich im Edelmut. Am Ende dieses ethischen Prozesses wird sich in der Menschheit gegenüber dem Zugemuteten das dazu polar angesiedelte Anmutende ausdrücken können.

 

Damit sich für mich – aber auch für Sie, liebe Lesende – in den anschliessenden Ausführungen Resonanz-Räume öffnen, habe ich den eingewobenen Er-zeugnissen anderer Menschen meine Aufmerksamkeit geschenkt. Jedes einzelne Wort ist, so wie es geschrieben steht, unangetastet angeführt. Mein Beitrag beschränkt sich lediglich darauf, die Inhalte als ergänzende Anteile zu einem gemeinsamen Ganzen systemisch gegliedert und nachvollziehbar zur Geltung kommen zu lassen. Alle subjektiven Wirklichkeiten mögen sich so als wahre Wirklichkeiten aussprechen können.

 

Basel, 29.3.2021

Christoph Johannes Meyer